2. Stern Astrid Viciana

Nahtod-Erfahrungen: Forschung zwischen Leben und Tod www.ster.de

Sie sehen das Licht am Ende des Tunnels – oder wie sie wiederbelebt werden: Immer wieder berichten Menschen, die beinahe gestorben wären, von Nahtoderfahrungen. Der Arzt Pim van Lommel erforscht das Phänomen. Zur Person Pim van Lommel, 66, ist Kardiologe und Nahtodforscher. Vor kurzem ist sein Buch „Endloses Bewusstsein“ (Patmos-Verlag) erschienen.

Herr van Lommel, Sie sind vielen Menschen begegnet, die auf der Intensivstation dem Tod knapp entronnen sind und völlig verändert zurück kehrten. Erinnern Sie sich noch an Ihre erste Begegnung? Wie könnte ich das vergessen! Ich arbeitete damals als junger Assistenzarzt auf der Intensivstation. Ein 55 Jahre alter Patient erlitt drei Tage nach seinem Herzinfarkt plötzlich einen Herzstillstand. Damals, Ende der 60er Jahre, war es erstmals möglich, Menschen mit Hilfe von Defibrillatoren wiederzubeleben. Bei meinem Patienten war es nicht einfach: sein Herz begann erst nach dem zweiten Versuch wieder zu schlagen. Wir waren sehr erleichtert – er selbst dagegen war sehr enttäuscht.

Er freute sich nicht, noch am Leben zu sein? Er war sogar sehr unglücklich darüber. Der Mann war vier Minuten bewusstlos gewesen und erzählte mir nach seinem Aufwachen begeistert von Lichtern, von Musik, von wunderschönen Landschaften, die er gesehen, von tiefem Frieden, den er erlebt hatte. Das kam für mich sehr unerwartet.

Warum? Ich wusste, dass sein Gehirn während des Herzstillstands keinen Sauerstoff erhalten hatte. Es konnte also nicht aktiv gewesen sein. Dass der Patient dennoch etwas erlebt hatte, passte nicht in die herkömmlichen Theorien der Wissenschaft. Hatte ich als Mediziner doch gelernt, dass es unmöglich ist, bei Bewusstlosigkeit etwas wahrzunehmen!

Dachten Sie, der arme Mann hat den Verstand verloren? Dachten Sie, der arme Mann hat den Verstand verloren? Im Gegenteil, ich spürte, dass er sehr aufgewühlt war, dass es ihm schwer fiel, seine Erlebnisse zu akzeptieren. Mir wurde klar: Hier geht es um eine Wirklichkeit, die größer ist als das normale Leben. Um ein Bewusstsein, das jenseits unseres Körpers, unabhängig von unserem Gehirn existiert. Eben jenes Bewusstsein, das ich nun in meinem Buch „Endloses Bewusstsein“ beschrieben habe.

Zunächst aber sahen Sie sich das Phänomen der Nahtoderfahrung genauer an.  Damals wusste man nur sehr wenig über dieses Phänomen, und alle Erklärungen – die Nahtoderfahrung als Folge von einem Sauerstoffmangel im Gehirn, Medikamentennebenwirkungen oder extremer Todesangst – überzeugten mich nicht. Gemeinsam mit meinen Kollegen beschloss ich, diese Erlebnisse von Grund auf zu erforschen: Wir wollten herausfinden, wie viele Menschen so eine Erfahrung machen, was sie erleben und warum. Darum begannen wir 1988 Patienten, die einen Herzstillstand überlebt hatten, möglichst bald nach der Wiederbelebung nach ihren Eindrücken zu befragen.

Wie viele von ihnen erlebten eine Nahtoderfahrung? Innerhalb von vier Jahren haben wir in zehn Kliniken insgesamt 344 Patienten nach einem Herzstillstand befragt. 62 von ihnen hatten eine Nahtoderfahrung durchlebt. Das bedeutet, dass etwa 18 Prozent aller Patienten mit einem Herzstillstand davon berichten. Doch tritt das Phänomen auch bei anderen lebensbedrohlichen Erkrankungen auf. Wie oft, weiß bislang niemand. Interessant ist allerdings, dass eine Nahtoderfahrung umso wahrscheinlicher ist, desto jünger der Patient ist. Studien ergaben, dass 70 Prozent der Kinder, die dem Tod knapp entrinnen, eine solche erleben.

Was berichten die Patienten? Die Erlebnisse sind sehr unterschiedlich: Manche sehen ein helles Licht am Ende eines Tunnels, manche hören Musik, andere berichten von schönen Landschaften oder erleben einen tiefen inneren Frieden. Ab und zu berichten die Patienten von einer außerkörperlichen Erfahrung. Sie betrachten sich selbst von oben und beobachten zum Beispiel die Notoperation, die ihnen das Leben rettet. Besonders beeindruckend war für mich der Bericht über einen Patienten mit einer Zahnprothese.

Was war an ihm so Besonderes? Er konnte sich an seine eigene Wiederbelebung erinnern. Ein Krankenpfleger hatte seine Zahnprothese herausgenommen, um den Beatmungsschlauch einzuführen. Als der Patient eine Woche später aus dem Koma erwachte, erkannte er sofort den Pfleger wieder. „Sie wissen, wo meine Zahnprothese ist!“, rief der Mann. Wir waren bis dahin nicht sicher, ob die Nahtoderfahrung tatsächlich bei Bewusstlosigkeit erlebt wird oder vielleicht in den Sekunden vor oder nach dem Herzstillstand. Der Patient brachte uns den Beweis.

Das könnte Zufall gewesen sein. Nein, niemals! Der Patient wusste, wo die Prothese lag. Er wusste, wie das Wiederbelebungszimmer aussah, er konnte den Instrumentenwagen im Detail beschreiben. Und er hatte den Raum später nachweislich nicht mehr betreten.

Dennoch würde jeder Wissenschaftler den Bericht als Anekdote abtun. Theoretisch haben Sie Recht, aber ich kenne eine Vielzahl ähnlicher Anekdoten. Ich habe mit Hunderten von Menschen gesprochen, die eine Nahtoderfahrung erlebt haben. Sie erinnerten sich an Details, die sie unmöglich wissen konnten. Details, die von der Familie, von Ärzten und Krankenschwestern nachträglich bestätigt wurden.

Ein Beweis ist das noch lange nicht. Dabei hatten Sie in Ihrer Studie versucht, einen Beleg zu erbringen.  Wir hatten in einem der Operationssäle oben auf den OP-Lampen Zeichen angebracht, ein rotes Kreuz oder einen grünen Kreis. Wir hofften, dass Patienten mit einer außerkörperlichen Nahtoderfahrung die Zeichen sehen und davon berichten würden. Doch leider hatte ausgerechnet in diesem OP-Saal kein einziger der wiederbelebten Patienten ein solches Erlebnis.

Wäre es nicht sinnvoll, das Experiment zu wiederholen? Da bin ich sehr zurückhaltend. Eine Nahtoderfahrung ist ein äußerst intensives, emotionales Erlebnis. Ich fürchte, dass die Patienten das Zeichen einfach übersehen würden, weil sie so ergriffen wären von dem, was sie fühlen, beobachten und hören.

Dennoch würde ein solcher Nachweis viele Ihrer kritischen Kollegen überzeugen.  Das glaube ich nicht. Würde einer unserer Patienten ein Zeichen entdecken, würden meine Kollegen zehn weitere Fälle verlangen. Hätten wir zehn, würden sie hundert einfordern. Nein, wir haben bereits genug Informationen. Wir wissen jetzt, dass auch ein bewusstloser Mensch sehr viel wahrnehmen kann.

Was meinen Sie damit? Obwohl bei einer Nahtoderfahrung das Gehirn nicht mit Sauerstoff versorgt wird, haben Patienten diese außergewöhnlichen Erlebnisse. Das kann nur bedeuten, dass unser Bewusstsein nicht im Gehirn entsteht. Gegen diese Hypothese wehren sich allerdings viele meiner Kollegen, weil es nicht in ihr wissenschaftliches Konzept passt. Mehr als 95 Prozent der Wissenschaftler sind davon überzeugt, dass das Bewusstsein ein Produkt unseres Gehirns ist. Würde ihre Hypothese stimmen, wären Nahtoderfahrungen unmöglich.

Vielleicht verstehen wir unser Gehirn noch nicht gut genug.  Genau so argumentieren auch meine kritischen Kollegen. Erst in zehn, zwanzig oder vielleicht fünfzig Jahren werden wir es begreifen können, heißt es dann. Tatsächlich sind unsere Messmethoden noch sehr grob: Trotz moderner Verfahren wie der funktionellen Kernspintomographie betrachten wir Veränderungen des Hirnstoffwechsels noch in Zeitabständen von ein bis zwei Sekunden. Dabei verändert sich die Hirnaktivität jede Millisekunde. Das ist als ob Sie in einem Buch nur jeden Tausendsten Buchstaben lesen würden. Allerdings werden uns präzisere Messverfahren auch nicht weiterbringen. Denn die Annahmen, die der Forschung zugrunde liegen, stimmen nicht.

Was muss passieren? Es muss ein Umdenken stattfinden, ähnlich wie einst in der Physik. Über Hunderte von Jahre hatte die klassische Physik ausgereicht, um etwa zu erklären, warum ein Apfel vom Baum fällt. Dann jedoch haben immer genauere Messmethoden gezeigt, dass die klassischen Modelle nicht ausreichen, um zum Beispiel das Verhalten von Elektronen zu erklären. Nur mit Hilfe der Quantenphysik war dies möglich – mit Konzepten also, die unsere Vorstellungskraft oft übersteigen.

Was bedeutet das für die Forschung? Das wir uns eingestehen sollten, dass die Entstehung unseres Bewusstseins noch ein Rätsel ist. Und die Aufgabe der Wissenschaft ist es, Fragen zu stellen, offen zu sein, für neue Hypothesen. Bislang basieren jedoch alle Studien auf der Hypothese, dass das Bewusstsein ein Produkt unseres Gehirns ist. Dabei wissen wir noch so wenig. Wir wissen nicht, warum Bewusstsein entsteht, wir wissen nicht, woher es kommt. Wir müssen ganz neu nachdenken, um eine neue Theorie über die Ursache von Nahtoderfahrungen zu entwickeln.

Woran denken Sie genau? Eines der wichtigsten Konzepte der Quantenphysik besagt, dass Teilchen über eine große Entfernung hinweg augenblicklich aufeinander einwirken können. Man nennt das Nicht-Lokalität, und gemeint ist damit ein Raum, in dem es keine Materie gibt, in dem Zeit und Distanz keine Rolle spielen. Dieser nicht-lokale Raum könnte die Grundlage unseres Bewusstseins bilden. Ein Bewusstsein also, dass jenseits unseres Gehirns existiert, auch wenn dies schwer vorzustellen ist.

Ist das die Botschaft Ihres Buchs? Ich habe keine Botschaft, und ich werde auch nicht versuchen, jemanden von meiner Hypothese zu überzeugen. Wer möchte, kann mein Buch lesen. Das Problem mit vielen Kritikern ist: Sie haben es nicht einmal angesehen, und sie kennen auch nicht die 300 wissenschaftlichen Artikel, auf die ich im Text verweise. Wenn sie stattdessen behaupten, ich würde fantasieren, dann ist das ihr Problem. Auch wenn das für mich schwer zu ertragen ist.

Wie entsteht Ihrer Ansicht nach unser Bewusstsein? Ich glaube, dass es bereits vor der Geburt eines Menschen existiert und auch nach seinem Tod fortbesteht. Alle Erfahrungen, die jemand im Laufe seines Lebens macht, werden dort gespeichert. Auch die Emotionen und Gedanken anderer Menschen fließen in das endlose Bewusstsein. Es wächst also ständig. Über unser Gehirn haben wir Zugang zu jenem Anteil, den wir als unser eigenes Ich erleben. Die Hirnzellen fungieren dabei als eine Art Empfangsmodul des Bewusstseins – ähnlich wie ein Mobiltelefon, das aus den elektromagnetischen Feldern genau jene Anrufe herausfiltert, die für uns bestimmt sind. Der übrige Teil des Bewusstseins bleibt uns normalerweise verschlossen.

Wie passen Nahtoderfahrungen in Ihre Theorie? Bei einem Herzstillstand zum Beispiel wird unser Gehirn nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt. Ähnlich wie ein defektes Mobiltelefon keine Anrufe empfängt, sind wir in dieser Zeit bewusstlos. Dennoch haben Patienten erstaunliche Erlebnisse. Warum? Weil sie plötzlich freien Zugang zum endlosen Bewusstsein bekommen, unabhängig von unserem Gehirn. Die Menschen erleben Erstaunliches: Sie begegnen Verstorbenen, sie durchleben ihre eigene Kindheit, ihre erste Liebe noch einmal. Die meisten von ihnen kehren verändert von ihrer Nahtoderfahrung zurück.

Inwiefern? Die meisten Menschen berichten, dass sich ihr Blick auf das Wesentliche im Leben völlig verändert hat. Sie beginnen, das Leben wieder mehr zu schätzen und sehen einen tiefen Sinn darin. Manche Aspekte des Lebens – teure Autos, ein großes Haus, Erfolg im Beruf – verlieren dagegen an Bedeutung. Stattdessen fühlen sich viele tief verbunden mit der Natur, gehen toleranter und einfühlsamer mit ihren Mitmenschen um. Vor allem aber verlieren sie die Angst vor dem Tod.

Was lehrt uns die Nahtodforschung über den Tod? Sie kann natürlich kein wissenschaftlicher Beleg dafür sein, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Denn es kehrt schließlich niemand zurück, um uns davon zu berichten. Was wir haben, sind Berichte von Menschen, die im Sterben lagen und gerettet wurden. Dennoch haben mich persönlich die Nahtoderfahrungen der Patienten davon überzeugt, dass unser Bewusstsein unabhängig von unserem Körper existieren kann, auch nach dem Tod.

Ihre Studienergebnisse sorgten im Jahr 2001 für viel Aufmerksamkeit, zum Teil mussten Sie harte Kritik einstecken. Ein Kollege aus Belgien etwa bezeichnete Ihre Forschung als Teufelszeug.  Diese Art von Kritik sagt meiner Ansicht nach mehr über die Menschen als über meine Studie. Dahinter steckt meiner Meinung nach die Angst, das eigene Weltbild zu verlieren. Man muss offen bleiben, für alle möglichen Erklärungen, auch bei der Nahtodforschung.