3. Sonntag (Schweiz) Katharina Rilling

Herr Pim van Lommel, Sie gehen davon aus, dass das Bewusstsein nach dem Tod nicht aufhört zu existieren.  Wir sind in unseren Studien auf Patienten getroffen, die einen Herzstillstand überlebt haben. Ihr Gehirn setzte für einen Moment aus, sie waren klinisch tot. Trotzdem haben sie nach dem Aufwachen von einem klaren Bewusstsein berichtet. Was wir wissenschaftlich bewiesen ist, dass man ein klares Bewusstsein in der Periode behalten kann, in der das Gehirn nicht mehr funktioniert. Wir nehmen daher an, dass auch Menschen, die definitiv gestorben sind, weiterhin bei Bewusstsein bleiben. Das Gehirn hat meiner Meinung nach keine produzierende Funktion, sondern eine ermöglichende. Es macht möglich, das Bewusstsein im Körper zu erfahren. Aber es produziert es nicht. Was wir täglich erfahren ist einWachbewusstsein, das durch Raum und Zeit beschränkt wird. Beim Nahtod ist das Bewusstsein frei und umfassender.

Wie definieren Sie Bewusstsein? Das weiss ich nicht. Es ist schwer eine Definition für diesen Zustand zu geben. Es gibt zu viele Aspekte des Bewusstseins – man kann nicht sagen, was genau das ist.

Wie sind Sie dazu gekommen, sich mit dem Nahtod auseinander zu setzen?  Ich bin Kardiologe und habe sehr viele Menschen wieder belebt – alle waren froh, auch ich als Arzt. Alle, ausser die Patienten mit ein Nahtod Erfahrung. Sie wollten am Liebsten „dort“ bleiben. Das hat mich neugierig gemacht. Ich hatte ja in der Universität gelernt, dass wenn man bewusstlos ist, man auch kein Bewusstsein mehr haben kann. 1986 habe ich alle Patienten, die wiederbelebt wurden, befragt. In zwei Jahren habe ich von 50 Patienten 12 kennengelernt, die eine Nahtoderfahrung gehabt haben. Das war für mich der Auslöser, wissenschaftliche Studien durchzuführen.

Was war ihr eindrücklichstes Erlebnis? Ein Patient kam im Koma in die Herzabteilung. Er wurde wiederbelebt, konnte nicht mehr atmen. Er hatte eine Zahnprotese, die eine Krankenschwester herausnahm und irgendwo hingelegt hat. Er war noch im Koma und kam zur Intensivstation. Als er nach eine Woche wieder bei Bewusstsein kam, war er wieder zurück in der Herzabteilung, und er sah die Schwester und sagte: „und du weißt, wo die Protese ist.“ Er hatte alles gesehen. Er konnte alles genau beschreiben, die Ärzte, den Raum – und er war damals im Koma und auf der Intensivstation.   So habe ich einige Begegnungen gehabt. Von Menschen, die alles wahrgenommen haben, als sie bewusstlos waren. Ob der Patient nach 30 Sekunden wiederbelebt wurde oder drei Wochen im Koma war – das macht keinen Unterschied, ob sie eine Nahtoderfahrung hatten oder nicht. Auch gab es keinen Unterschied in der Religiosität oder in Vorkenntnissen über Nahtoderfahrungen, etc.

Wie erklärt man das Phänomen wissenschaftlich?  Heute ist unsere Wissenschaft materialistisch ausgelegt. Sie sagt, dass das Bewusstsein ein Produkt des Gehirns ist. Falls das aber so sein sollte, wäre die Nahtoderfahrung nicht möglich, da das Gehirn nach 15 sec. nicht mehr funktioniert. Keine Körperreflexe und Hirnstammreflexe sind zu messen, keine Gehirnströme, der Atem setzt aus. Man kann also klinisch keine Lebenszeichen mehr feststellen. Und trotzdem haben Menschen ein klares Bewusstsein. Sie beschreiben die Vorgänge, die passierten, während sie klinisch tot waren. Man kann das aber mit einem anderen Modell erklären: Das Bewusstsein ist immer da. Es ist ein Bewusstsein ohne Zeit und Raum und der Körper und das Gehirn sind nur Sender und Empfänger für das Bewusstsein ist. Der Körper mit seinen Sinnesorganen sendet an das Bewusstsein und das Bewusstsein sendet an den Körper Informationen. Das Körper funktioniert so als eine Schnittstelle. Ich glaube, dass alles eine Form von Bewusstsein hat im Universum. Ich meine damit ein universelles Bewusstsein, kein subjektives.

aben die Patienten die gleichen Erfahrungen gemacht? Nein, aber sie haben immer die selben Elemente erlebt. Es gibt zwölf Elemente, wobei manchmal 1, 2 oder 3 von ihnen vorkommen – oder auch alle. Aber die Elemente sind weltweit die Selben. In allen Zeiten, allen Kulturen und Religionszugehörigkeiten. Die Wörter, die die Menschen brauchen, um darüber zu sprechen sind unterschiedlich: ein Kind wird das Phänomen anders nennen und beschreiben als ein Erwachsener, ein Christ anders als ein Hinduist oder ein Agnostiker. Es ist aber eine Erfahrung ohne Wörter und darum schwer anderen Menschen zu vermitteln. Da besteht die Gefahr, auf alte Erfahrungen zurück zu greifen, für die es schon Worte gibt. Das ist aber eine völlig neue Erfahrung. In unserer Studie haben wir herausgefunden, dass Frauen ein wenig mehr Elemente erfahren hatten, als Männer.

Welche Elemente sind das? Man fühlt keinen Schmerz mehr, also fallen beim Autounfall oder beim Herzinfarkt Schmerz und Angst einfach weg. Man realisiert, dass man tot ist. Man kann auch eine ausserkörperliche Erfahrung haben, in der man von oben die Wiederbelebung wahrnimmt, oder den Unfall. Und das ist auch verifizierbar durch Ärzte oder andere Zeugen. Man kann in einen dunklen Raum kommen, man sieht einen kleinen Lichtpunkt, auf den man zugeht. Man nennt das das Tunnelerlebnis. Manchmal ist man gleich vom Licht umgeben oder sieht ein Wesen aus Licht. Manche sehen schöne Farben, schöne Musik und manche begegnen verstorbenen Verwandten. Einige spüren eine vollkommene Liebe und Empathie. Oder einen Lebensrückblick. Da wird alles wiederbelebt, was man getan und gedacht hat – auch mit der Wirkung auf andere: ob man Liebe gegeben hat oder nicht. Jeder Gedanke aus dem Leben ist da wieder zu erfahren. Manche können auch einen Blick in die Zukunft werfen. Oder sie können bewusst in den Körper zurückkommen. Das ist oft schwierig für die Patienten, weil man wieder den Schmerz des Körpers spürt.

Sind Nahtoderlebnisse immer positiv? Nein. Die Erfahrung in einem dunklen Raum zu sein ist für einige der Menschen Angst einflössend. Ungefähr 2 Prozent der Menschen mit den Nahtoderfahrungen haben negative Angst- oder Höllenerfahrungen.

Wie leben diese Menschen dann weiter? Die Menschen haben eine lebenslange Änderung von einer Erfahrung, die nur 1-2 Minuten dauerte und die man verarbeiten muss. Sie haben keine Todesangst mehr. Sie haben andere Ansichten vom Leben, der Liebe für sich selbst und anderen und sie spüren eine grosse Liebe zur Natur. Sie fühlen eine Einheit, sich verbunden mit allem. Das Leben wird dadurch automatisch anders. Man hat eine erhöhte intuitive Sensibilität. Das ist sehr schwierig für die Menschen, weil sie plötzlich Informationen von anderen bekommen, die man eigentlich nicht wissen kann. Zum Beispiel fühlt man ihren Schmerz, oder weiss, wann Menschen sterben werden. Manche können sogar in die Zukunft schauen, meistens in Traüme. Sie sind also oft depressiv und haben Heimwehgefühle. Die Menschen können nicht darüber sprechen, es wird nicht akzeptiert. Mehr als fünfzig Prozent der Menschen mit der Nahtoderfahrung kommen in eine Trennung. Es heisst oft, der Partner sei nicht mehr derselbe, den sie geheiratet haben. Es ist eine schöne Erfahrung, aber es ist auch ein Trauma.

Und die Menschen, die die Angsterlebnisse hatten? Haben die auch keine Todesangst mehr? Und diejenigen, die eine Angsterfahrung gehabt haben, haben es noch schwerer. Aber wenn man diesen Menschen erzählen kann, dass alles was wir erfahren, auch hier und jetzt, nur durch unser Bewusstsein kommt, hilft das. Wenn man verliebt ist, ist die Welt wunderbar. Und wenn man depressiv ist, ist die Welt schrecklich. Wenn man sich gerade in einem Bewusstseinszustand der Angst befindet, ist die Bewusstseinserfahrung auch in der Nahtoderfahrung Angst. Man hat also eine Angsterfahrung, aber das sagt noch nichts über die nächste aus. Aber es ist sehr schwer zu verkraften. Ich kenne eine Frau, die drei Abende, stundelang laut geweint hat, als sie versuchte, darüber zu sprechen.

Es gibt auch viele kritische Stimmen gegen ihre These.  Ja, aber natürlich. Die meisten Kritiker haben Probleme mit der Aussage, dass das Bewusstsein nicht ein Produkt des Gehirns sein kann, sondern auch ohne Körper existiert. Und die meisten Menschen, die mich kritisieren, haben mein Buch nicht gelesen und kennen die Literatur nicht. In meinem Buch habe ich dreihundert Artikel gesammelt zu dem Thema. Ich habe auch die Literatur vieler Kulturen, Zeiten, Religionen und Philosophen wie Platon miteinbezogen. Es ist nichts neues, was ich erzähle. Aber die heutige Wissenschaft hat Probleme mit Subjektivität umzugehen. Man kann das Bewusstsein eben nicht messen und das ist für Wissenschaftler ein Problem. Man kann auch nicht wissenschaftlich prüfen, in wen man verliebt ist oder dass man ein Musikstück liebt. Das kann man nicht messen. Im Gehirn kann man nur Aktivitäten der Hirnregionen wie „hören“ messen, aber nicht die Inhalte, Gedanken und Gefühle. Das sind Korrelate, man weiss nicht, ob sie Ursachen oder Folgen des Bewusstseins sind. Es sind nur Korrelate. Es vollzieht sich ein Paradigmenwechsel in der Wissenschaft und es dauert immer seine Zeit, etwas Neues zu akzeptieren. Viele Wissenschaftler unterstützen meine Meinung und viele stimmen auch nicht mit mir überein. Wenn man ein materialistisches Konzept hat, ist man der Meinung, dass Endorphine freigesetzt wurden, die glücklich machen. Aber das kann ein Nahtoderlebnis nicht erklären. Es gibt keine körperlichen Erklärungen. Nur durch Sauerstoffmangel werden diese Hormone freigesetzt. Und Sauerstoffmangel war nicht die Ursache für die Erlebnisse! Wenn dies wirklich die Ursache wäre, sollten 100 % mit Herzstillstand diese Erfahrung gemacht haben, aber nur bei 18 Prozent war dies der Fall. Und: Auch Menschen mit Depression, bei Todesangst, bei einer Sterbebettvision oder in der Meditation haben diese Nahtoderfahrungen – ohne Probleme im Hirn, ohne Sauerstoffmangel.

Warum machen nicht alle wiederbelebten Patienten diese Erfahrungen? Früher sagte man immer, dass die Nahtoderfahrung durch Sauerstoffmangel verursacht wurde. In unserer Studie haben wir gezeigt, dass der Sauerstoffmangel absolut keine Erklärung dafür war, dass diese Menschen eine solche Erfahrung hatten. Von 344 Patienten, die klinisch tot waren durch Sauerstoffmangel, erlebten nur 18 Prozent die Nahtoderfahrung. Warum nur 18 Prozent? Das wissen wir nicht. Aber es zeigt, dass der Sauerstoffmangel als Erklärung nicht ausreicht. Ich kann nur eine nichtwissenschaftliche Erklärung dafür geben, warum nicht alle Menschen eine Nahtoderfahrung machen, die wieder belebt werden. Wenn da eine Verbindung besteht zwischen dem Körper und dem Bewusstsein, dann ist diese Verbindung möglicherweise nicht bei allen Menschen gleich stark. Vielleicht brauchen die Menschen mit sehr starken Verbindungen mehr Zeit, um das Bewusstsein von ihrem Körper zu trennen. Diese sind aber verstorben, man kann sie nicht befragen. Dies ist nicht wissenschaftlich bewiesen, sondern nur meine persönliche Vermutung. Auch als Wissenschaftler sollte man sagen können: Ich weiss es nicht. Aber ich kann mit Sicherheit sagen: die heutigen materialistischen Erklärungen stimmen einfach nicht.

Sind Sie gläubig? Ich bin ohne Kirche und ohne Bibel gross geworden. Aber ich habe durch die Studie über den Nahtod sehr viel über Religionen gelesen. Tibetischer Buddhismus, die Bibel, Sufis, Hindus: Für mich haben alle Religionen die Selbe Botschaft. Es geht nur um Liebe. Das ist die ewige Essenz der Menschen, das Unsterbliche. Das Liebesbedürfnis versuchen die Menschen in den Religionen zu finden. Die Suche nach bedingungsloser Liebe und Empathie und etwas, was man vielleicht Gott nennen kann. Die Essenz der Menschen ist Liebe, ist Gott. Aber die meiste Menschen haben eine grosse Unwissenheit.

Haben Sie Angst vor dem Tod? Ich habe sehr wenig Angst vor dem Tod. Ich bin neugierig.

Hat man den Lebenswillen denn nicht nur, wenn man die Angst vor dem Tod hat? Diese Angst schützt unser Leben doch auch, wir sind vorsichtiger. Wie wir dem Tod entgegen sehen, entscheidet darüber, wie wir im Leben stehen. Wenn man keine Angst vor dem Tod hat, hat man keine Angst um das Leben. Man lebt aus liebe. Man lebt viel bewusster, weil man weiss, dass alles miteinander verbunden ist und das Leben heilig ist. Ich zitiere eine Patientin, die sagt: „Ich kann ohne meinen Körper sein, aber mein Körper kann nicht ohne mich sein.“ Viele Menschen, die wieder zurückkommen, haben aber ein starkes Heimweh. Das endlose Bewusstsein ist übrigens auch hier zugänglich, nicht erst nach dem Tod. Die mystischen Erfahrungen im Mittelalter in den Kirchen, in der Meditation oder Naturerfahrungen haben das gezeigt.

Wie können die Menschen mit dem bleibenden Heimweh fertig werden? Sie müssen akzeptieren lernen, dass sie diese Erfahrung gehabt haben, dass sie nicht die einzigen sind, dass sie darüber sprechen können, dass man sie anhören wird, ohne Urteil – so können sie am besten die Erfahrung in ihr Leben integrieren und versuchen anders zu leben. Das ist ein jahrelanger Prozess. Es gibt auch Menschen, die ohne diese Erfahrung ein Leben lang Heimweh nach etwas haben, was sie nicht benennen können. Junge Kinder zum Beispiel sind sehr offen und haben erhöhte intuitive Fähigkeiten. Vielleicht wissen sie viel mehr als wir.   Vielen Dank!